Art on Ice 2018
Seit nun zehn Jahren produziere ich Art on Ice. Natürlich bin ich auf jede einzelne Showproduktion stolz, aber wenn man mich nach meiner absoluten Lieblingsshow fragt, antwortete ich bis vor kurzem immer: 2018, die Show über die Beltracchi-Story. (Spoiler: 2025 kommt ein weiteres Highlight hinzu.) Aber mal der Reihe nach…
Ich kannte seine unglaubliche Geschichte bis dahin nicht (und wenn es Ihnen so geht wie mir damals, empfehle ich wärmstens die Dokumentation über ihn «The Art of Forgery») Als Oliver Höner mir erzählte, dass er den Künstler Wolfgang Beltracchi getroffen habe und dieser bereit wäre, seine Kunst und seine Geschichte der Show zur Verfügung zu stellen, war ich neugierig. Nach kurzer Recherche wusste ich: Das ist ein Geschenk. Eine solche Geschichte gibt es nur einmal.
Wolfgang Beltracchi, Art on Ice 2018
Als Showproduzentin habe ich im Laufe meiner Karriere viele faszinierende Persönlichkeiten kennengelernt. Wolfgang Beltracchi jedoch gehört zu den wenigen, die mich nachhaltig beeindruckt haben. Nicht nur seine wirklich unglaubliche Geschichte, sondern auch sein profundes Wissen über Kunst und Kunstgeschichte hat meinen Blick geschärft für die Fragen: Was ist Kunst? Was darf sie? Was darf sie nicht? Darf sie überhaupt etwas nicht? Beltracchis Lust an der Provokation machte seine Geschichte so spannend, denn liegt nicht genau darin oft die Kraft der Kunst: zu irritieren, herauszufordern, Grenzen zu verschieben? Diese Fragen waren der Ausgangspunkt für eine Show, die aus der Perspektive der Kunst selbst erzählt wurde.
Audio-Ausschnitt aus dem Intro aus Art on Ice 2018:
Abgesehen von der Storyline und musikalischen Highlights wie Pegasus und Emeli Sandé war auch das Bühnendesign als überdimensional, abstrakte Galerie für die Kunstwerke von Wolfgang Beltracchi in meinen Augen unvergesslich. Die Kostümbilder wurden zu lebendigen Fortsetzungen der Gemälde. In dieser Show stimmte einfach alles und machte ihrem Namen «Art on Ice» alle Ehre.
Meine zweite grosse Lieblingsshow. Eine, die mein zehnjähriges Jubiläum bei Art on Ice markierte. Auch diese Show war in so vielen Bereichen aussergewöhnlich. Musikalisch für mich ein absoluter Höhepunkt: Paloma Faith! Sieben Jahre lang hatten wir die Britin auf unserer Wunschliste. Nicht nur, weil ihre Songs grossartig sind, sondern auch ihre exzentrische, aber liebenswürdige Persönlichkeit verliehen der Show das gewisse Extra. Mein emotionales Highlight in dieser Show: Stress. Ich bewundere ihn bis heute für seinen Mut, so offen und verletzlich über seine Depression zu sprechen. Der Moment, als er in der Show aus seinem Buch las und das Publikum aufforderte, „das Licht für einen geliebten Menschen in der Dunkelheit“ zu sein, hat sich für immer in meine Erinnerung und in mein Herz gebrannt. Das anschliessende Lichtermeer im Saal war der Beweis: Wir Menschen besitzen eine unglaubliche Kraft – die des Zusammenhalts.
Ein weiterer Meilenstein dieser Show: Gabriella Papadakis und Madison Hubbell. Mit ihrer gleichgeschlechtlichen Tanznummer haben sie im Eiskunstlauf Geschichte geschrieben. Für mich war es eine grosse Ehre, einen Beitrag zu leisten für etwas, das vielen Menschen Mut gibt und zugleich zeigt, was Kunst sein kann: Spiegel, Befreiung, Aufbruch.
Alte Show-Weisheit: Wenn die Generalprobe zu rund läuft, dann kann man sich auf eine turbulente Premiere einstellen. Wie auch sonst im Leben, kann nicht immer alles reibungslos funktionieren und Pannen gehören nun mal dazu. Manchmal verliebt man sich in eine Idee und muss erkennen, dass sie am Ende nicht trägt. Humor ist dafür ein gutes Beispiel. So kam es auch schon vor, dass wir im Text der Offstimme einen Witz einbauten, den wir im Vorfeld grandios komisch fanden, der aber beim Publikum keinerlei Reaktion auslöste. Oder 2023 die Ausschnitte aus „Caveman“, die mehr Stirnrunzeln als Begeisterung hervorriefen. Humor ist eben Geschmackssache und man kann damit durchaus auch als erfahrene Showproduzenten ins Fettnäpfchen treten.
Und dann gibt es noch die geliebte Technik. 2019 hatten wir ein spektakuläres, sehr teures Requisit, ein Steampunk-Flugschiff, das in der Premiere aufgrund eines technischen Fehlers schlicht nicht abheben wollte. Da hilft nur: kühlen Kopf bewahren und improvisieren. Immerhin: Eine Bruchlandung machte das Flugschiff zum Glück nicht und dem Publikum fiel die Panne nicht einmal auf.
Ideen entstehen auf unterschiedlichste Weise. Durch Begegnungen, wie bei Oliver und Wolfgang Beltracchi. Oder durch persönliche Erfahrungen, Beobachtungen und vor allem: Neugierde.
Ich persönlich glaube, die Neugierde und die Freude an dem Unbekannten ist die grösste Antriebskraft eines jeden Kreativen. Als selbst kreativ-Schaffende empfinde ich es als unbegreiflich, dass das Überraschende, das Andersartige in der heutigen Welt so oft als Bedrohung wahrgenommen wird. Künstlerseelen dagegen sehnen sich nach genau diesem Unerwarteten, dem Gegensatz, der Provokation. Und ich bin überzeugt: Die Menschheit braucht die Kunst und somit ihre Künstler. Die Kunst ist der Funke, der inspiriert, Türen öffnet, neue Wege zeigt und Innovation möglich macht. Deshalb war die Performance von Gabriella und Madison so wichtig. Die Möglichkeit, dass zwei gleichgeschlechtliche Läufer miteinander tanzen, nimmt niemanden etwas weg. Sie bereichert diesen wundervollen Sport um eine weitere Perspektive.
Die Geschichten, die am meisten berühren, sind die, die uns alle etwas angehen. Genau deshalb war die Show 2025 so erfolgreich. Noch nie erreichten uns so viele Rückmeldungen. Fremde Menschen schrieben mir, wie sehr sie bewegt waren, wie dankbar sie sich fühlten, dass wir dem Tabu-Thema Depression Aufmerksamkeit geschenkt haben.
Auch die Dramaturgie lebt von Gegensätzen. In einem Moment rührt Stress das Publikum mit seiner Offenheit zu Tränen, nur wenige Minuten später hält es niemanden mehr auf den Stühlen, das Publikum springt und feiert – die Halle bebt, Gänsehaut pur. Genau das ist für mich die Definition von Entertainment. Ohne Dunkelheit kein Licht. Ohne Tränen kein Lachen. Eine gute Show führt ihr Publikum durch diese Extreme. Am Ende bleibt ein geteiltes Erlebnis, das uns einander und uns selbst ein Stück näher bringt.
Nun steht das grosse Jubiläum bevor. 30 Jahre Art on Ice. Die Erwartungen sind gross… Nicht nur die von aussen, auch unsere eigenen. Jedes Jahr will man die letzte Show übertreffen. Das Jubiläum verschärft diesen Druck.
Immer wieder stosse ich bei meinen Recherchen auf ein Zitat von Reto Caviezel und Oliver Höner: «Niemand hätte gedacht, dass aus dieser Schnapsidee einmal so etwas Grosses wird.»
Und das bringt mich zum Nachdenken über Erwartungshaltungen, den Druck von aussen. Und wie damals Wolfgang Beltracchi, kreuzte kürzlich ein gewisser Künstler unseren Weg und inspirierte die Showproduktion mit der Fragestellung: Was erwartet das Publikum? Welchen Wert hat Kunst, wenn sie unbedingt versucht zu gefallen? Was, wenn man trotz aller Widerstände einfach weitermacht? An seinem Traum, an seiner Kunst, seinem Stil festhält und auf seine innere Stimme vertraut… So wie einst Reto und Oliver, die die Schnapsidee einfach in die Tat umgesetzt haben. Against all odds.
Wenn Du jetzt neugierig bist, wie es mit der Jubiläumsshow weitergeht, dann freut mich das, denn meine Einstellung zur Neugierde sollte ja nun bekannt sein.
Marcella Camenzind ist Head of Creation & Design bei Art on Ice und seit 2015 Teil der Showabteilung. Die 43jährige hat ein grosses Faible für Animationsfilme und Comics und stöbert gerne auf Flohmärkten. Inspiration und Ideen für die Show findet sie in der Musik, Filmen und Podcasts.